STUSS
     MUND

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29.10.20 26.10.20 20.10.20 17.10.20 14.10.20 11.10.20 08.10.20 05.10.20 02.10.20
PANNEN GERICHT.

Und weiter geht es mit der Salamitechnik, aber Weihnachten kann uns nur retten, wenn wir Weihnachten retten. Konsequenterweise wird das Leben möglichst vollständig aus dem öffentlichen Raum verbannt, obwohl die meisten Ansteckungen angeblich im Privatbereich statt finden sollen. Wie sollen wir das nun also verstehen? Wahrscheinlich kommt es in zwei Wochen wieder zu einer umfassenden Kontaktsperre, denn die Bürger blieben zwar zu hause, aber nicht allein. Salamitechnik halt. Wer noch keine Salami hat, kauft sich eine, oder besser gleich mehrere, denn Klopapier ist sowieso schon wieder ausverkauft und drucken kann man es auch nicht, nur bedrucken. Glücklich wer eine Nudelmaschine sein eigen nennt, denn die Nudeln sind ebenfalls ausverkauft. Eine Krise die ohne Hamstern über die Runden kommt, ist keine richtige Krise, denn Hamster brauchen nun mal ihr Hamsterrad.

Bis vor zehn Jahren residierte an der Ecke Schanzenstraße / Schulterblatt „Radio Kölsch“, ein Fachgeschäft für elektrische und elektronische Ersatzteile und Zubehör. Das Eckgeschäft lag nicht direkt an Ecke, sondern eine Ladentür vor der Ecke, an der ursprünglich ein Juwelier und Uhrenladen seine Auslagen mit Panzerglas geschützt hatte, bis sich der Betrieb nicht mehr lohnte und der Ladenraum samt unterirdischem Tresorraum, von einem Headshop übernommen wurde, der sich aber nur ein paar Jahre hielt. Dem Headshop folgten diverse Geschäftsideen mit begrenzter Laufzeit, mittlerweile werden dort Smartphones aller Hersteller repariert, was eventuell noch ein paar Jahre lang lukrativ genug, für die im Viertel üblichen, hohen Mieten, sein könnte. Trotzdem „Radio Klösch“, allgemein nur Kölsch genannt, also nicht direkt an der Ecke lag, ging der Laden als Eckgeschäft durch, denn er verband das Schulterblatt mit der Schanzenstraße. Am langen Verkaufstresen entlang, der von der Tür zum Schulterblatt bis zur Tür an der Schanzenstraße reichte, konnte man sich den Weg um die Ecke sparen und diese Abkürzung wurde gerne gewählt. In der Schanzenstraße gab es noch eine zweite Tür, zu einem weiteren Verkaufsraum von „Radio Kölsch“, indem vorzugsweise Ersatzteile für Computer und andere IT Geräte verkauft wurden. Schnell kam man bei Kölsch nur mit viel Glück dran, die Männer hinterm Verkaufstresen, bei Kölsch war nur die Kassiererin weiblich und alle Rechnungen, auch die aus dem Computerteileladen, mussten an ihrer Kasse beglichen werden, waren mindestens so exzentrisch, wie ihr teilweise sehr verschrobenes Bastlerpublikum. Schnell kamen sie vom Hundertsten ins Tausende, bereiteten ihr Fachwissen aus und diskutierten leidenschaftlich, mit den nicht minder besessenen Tüftlern über das passende Ersatzteil. Was sich nicht in den unzähligen Schubladen im Rücken der Verkäufer fand, an der Wand hing, von der Decke baumelte, bei Kölsch blieb kein Quadratzentimeter des Verkaufsraumes ungenutzt, oder sich im Lager befand, wurde umgehend bestellt, ein komplizierter Prozess der nochmal einige Zeit in Anspruch nahm, denn obwohl bei Kölsch nicht nur Ersatzteile für alte Lampen und schon betagte, elektrische Geräte verkauft wurden, sondern auch für hochmoderne Technik, fand der Bestellvorgang immer noch so statt, wie in zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts, als „Radio Kölsch“ gegründet worden war. Die unverständlichen Fachgespräche am Verkaufstresen fesselten meine Aufmerksamkeit nicht besonders, aber die unzähligen Gegenstände im langen, vollgestopften Verkaufsschlauch umso mehr. So vertrieb ich mir den die Wartezeit mit Grübeleien über den Sinn und Zweck diverser Gerätschaften, die ich vorher noch nie gesehen hatte. Lüsterklemmen und Kabelschuhe haben ja schon einen gewissen, exotischen Reiz, aber sie werden meistens in Schubladen gut verwahrt und nicht offen zum Verkauf ausgestellt. Wenn ich denn endlich dran kam, gab es manchmal auch noch Verständnisprobleme zu überwinden, weil ich die Fachsprache der Tüftler nicht beherrschte und es etlicher spezifizierender Nachfragen bedurfte, bis klar war, was für ein Ersatzteil ich benötigte. Als ich mit einem Netzteil, dessen Kabel zerrissen war, weil ich darüber gestolpert war, auftauchte und ein neues Netzteil erwerben wollte, am sichersten war es das kaputte Teil einfach mit zu nehmen, dass machte umständliche Erklärungen überflüssig, reparierten sie mir einfach das Kabel und nahmen keinen Pfennig dafür. Das Netzteil besitze ich immer noch.

Pausen werden gemacht, indem sie genommen werden.

WIRR AALE.

Es war schon dunkel, vorm Schanz - Elysee hatte sich die Nachbarschaft um einen Heizpilz versammelt. Man grüßt sich. Die Luft war noch milde, aber feucht und diesig und die Lichter am Pferdemarkt fingen an zu verschwimmen. Viel war nicht los und das Grüppchen um den Heizpilz strahlte ein wenig Verlorenheit aus. Hinweg gefegt war die überdrehte Hysterie der Sommernächte, deren überbordender Wahnsinn letztendlich durch Alkoholverkaufsverbote gestoppt werden musste. Nach dem Shutdown ist vor dem Shutdown, aber beim ersten Mal ging die Reise in das Licht von Frühling und Sommer und nun geht sie in die Dunkelheit von Herbst und Winter und die Botschaft des Virus, dass die Masse mörderisch ist, ist immer noch nicht angekommen. Wer es besser machen will, bleibt zu hause, kauft Meisenkugeln und anderes Vogelfutter und hilft unseren gefiederten Mitbewohnern durch die Kälte des Winters.

An der Budapester Straße, auf der dem Heiligengeistfeld gegenüberliegenden Seite, residiert bis heute der Laden „Ferd. Schüllenbach e. k. Auswahl Beratung Service“ für den die Bezeichnung Baumarkt eigentlich etwas zu profan ist. Das Schüllenbachsche Angebot wird auf dem Ladenschild spezifiziert, mit Eisenwaren - Werkzeuge - Fenster - u. Türbeschläge, wobei der Punkt hinterm u vom und, mich immer wieder zum den Punkt hinter Ferd brachte, was wahrscheinlich die Abkürzung von Ferdinand ist. Ursprünglich war Schüllenbach wohl eine Eisenwarenhandlung, denn als es mich vor über vierzig Jahren zum ersten Mal in in das Schüllenbachsche Geschäft verschlug, bestand das Angebot des Ladens noch überwiegend aus sogenannten Eisenwaren. Das alte Fachgeschäft war damals erst vor kurzem, vom Neuen Pferdemarkt in die Budapester Straße gezogen, wo es vor fast hundertfünfzig Jahren gegründet worden war. Das spektakulärste im etwas rummeligen Verkaufsraum, ist noch heute, dass in Sitzhöhe rundum verglaste Kabäuschen mit der Kasse. Das Kassenkabäuschen steht mitten im Laden und beherbergt nicht nur die Kasse und die stattliche Kassiererin, sondern auch etliche, liebevoll gepflegte Zimmerpflanzen. Ansonsten ist der nicht besonders große Verkaufsraum ziemlich voll gestellt, mit Blumentöpfen jeder Größe, Wäscheständern, Bügelbrettern, Wannen und Eimern aus Zink oder Plastik, ein paar Dekorationsfiguren vom benachbarten Dom, die es auf mysteriöse Weise in den Laden geschafft haben, um dort ein gnädiges Asyl zu finden und allerhand anderen Dingen, bei denen es sich nicht eigentlich um Eisenwaren handelt. Wenn man dann den Hindernisparcours halbwegs Unfallfrei bewältigt hat, kommt man schnell vorm Verkaufstresen, der sich über die gesamte Länge des Ladens hinzieht, zum stehen. Die Wand hinter diesem Tresen besteht aus einem einzigen, riesigen Schrank, der in unendlich viele, kryptische beschriftete Schubladen unterteilt ist. Diese Schubladen sind die Heimat aller möglichen Schrauben, Dichtungen, Muttern und Nägel, von Schlössern und Riegeln, von Tür und Schrankbeschlägen, aber auch von Werkzeugen aller Art, Schuhcreme, Knöpfen, Flaschenöffnern, Dusch und Gardinenringen. Bei Schüllenbach gibt es über vierhundert verschiedene Schlösser zu erwerben und weit über viertausend unterschiedliche Schrauben. Hinter dieser Wand der Wunder, beginnt der größere Teil des Schüllenbachschen Reiches, auf ein paar hundert Quadratmetern erstrecken sich Werkstätten und Lager, denn bei Schüllenbach wird auch repariert, auf Bestellung produziert und im Zweifelsfall werden sehr individuelle Lösungen gefunden. Bei Schüllenbach haben sie noch Zeit für die technischen aber auch für die persönlichen Probleme ihrer Kundschaft, die Nachbarschaft schaut vorbei und manchmal muss man etwas länger warten, aber meistens spart man viel Geld und unsinnige Neuanschaffungen. Schüllenbach ist ein Familienbetrieb und als die stattliche Dame im Kassenkabäuschen dahinter kam, dass mein Angetrauter Pfleger ist und ihren Vater in einem Pflegeheim in der Nähe betreut, zogen sich seine Visiten bei Schüllenbach noch länger hin, aber dafür passten die Ersatzteile dann auch fast immer oder konnten problemlos umgetauscht werden.

Auf falsche Fragen muss man nicht auch noch falsch antworten.

TUSCHEL FAKTOR.

Wer zur Hölle fahren will, sollte nicht nur halbwegs gebildet seinen, sondern auch einen feuerfesten Anzug sein eigen nennen. Feuer im Herzen zu haben, mag ja ganz schön sein, aber im Haus ist so ein Feuer weniger wünschenswert und Feuermelder melden Feuerköpfe. So muss denn wo Feuer ist, nicht zwingend Rauch sein aber Hitze und in der Hitze der Auseinandersetzung, werden verdammt feurige Gedanken frei. Was abgeht muss deswegen noch lange nicht ins Wasser fallen und Feuerwasser war schon immer ein Widerspruch in sich. Wir feuern ins Schwarze, damit das schwarze Geld sichtbar bleibt und von seinen dunklen Wegen abkommt. Öl ist für die Götter und wer auf einem Ölfilm ausrutscht hat selber schuld, aber Steilvorlagen rutschen unbekümmert den Hang hinunter und wo nicht genug Gefälle vorhanden ist, werden krumme Gedanken gebacken, denn das Glück ist manchmal nur um die Ecke geflüchtet.

Der Dom auf dem Heiligengeistfeld, einer ungefähr zwanzig Hektar großem Freifläche im Herzen der Stadt, gehört zu den ewigen Landmarken des Viertels. Das Heiligengeistfeld, eingefasst von einem unregelmäßigen, spitzwinkligen Straßendreieck, bestehend den Straßen Neuer Kamp in der Verlängerung Feldstraße, Budapester Straße und Glacischaussee, erhielt seinen Namen von einem vor über achthundert Jahren gegründetem Klosterhospital. Das Hospital gibt es schon lange nicht mehr, aber der Name blieb erhalten und mit ihm die Freifläche. Seit damals gibt es auch den Dom, denn wo gestorben wird, will auch gelebt und gefeiert werden. Wir wohnten mal gerade eben einen Monat im Schulterblatt, als das ohrenbetäubende Feuerwerk der Domeröffnung am Freitag, mich kalt erwischte. Das Echo der Hinterhöfe, verstärkte den Lärm der bunten Knaller und Feuerwerksrakten ganz enorm und wer keine Ahnung von den Gepflogenheiten des Doms hatte, war in den damaligen Zeiten des kalten Krieges, erst mal sehr beunruhigt. Wir lernten schnell, dass der Dom traditionellerweise nicht nur immer an einem Freitag eröffnet wird, sondern dass auch jeden Freitag nach zweiundzwanzig Uhr Domfeuerwerk ist und natürlich gingen wir zum Dom. Mit der Anwesenheit der Schausteller, Fahrgewerbebetreiber, den Verkäufern und Verkäuferinnen von Losen, Bratwurst, Fettgebäck, Zuckerwatte, gebrannten Mandeln, Süßwaren, Bier und Glühwein, verändert sich das Viertel dreimal im Jahr für vier Wochen. Menschen, die gewöhnlicherweise fast ausschließlich als Genre Typen, Vertreter von Randgruppen oder besondere Charakterköpfe in Fernsehen vorkamen, mischten sich auf den Bürgersteigen des Viertels mit einmal unter die Einwohner. Wenn Dom war gab es keine Parkplätze mehr im Viertel und egal was wir von der ganzen Sache hielten, wir gingen auch zum Dom. Mit Andrea rauchte ich erst eine fette Tüte und dann stiegen wir, kurz vor zweiundzwanzig Uhr, an einem Freitag ins Riesenrad und bestaunten die Stadt und das Feuerwerk. An jeder Geisterbahn erinnerte ich mich daran, wie ich als kleines Mädchen, im Alter von fünf Jahren zum ersten Mal auf dem Dom war und zum erstem Mal mit einer Geisterbahn gefahren war. Es war so traumatisch, dass ich mir für fast die gesamte Länge der Fahrt, meine Skimütze über die Augen gezogen hatte. Am liebsten ging ich mit Ivo auf den Dom. Kurz vor Schluss packte er seine Kamera ein und wir machten uns auf den Weg. Ivo war scharf auf Nachtaufnahmen, bunte Lichter vorm nachtblauen Himmel der Stadt und markante Gesichter. Ich mochte die Atmosphäre, das ungehobelte und unglatte des Dom, die Freiheit, die mir Ivos Begleitung gab und all die Geschichten, die der Dom erzählte. Sie mochten uns meistens nicht besonders gerne, mit Ausnahmen, Ivo, von jeder Markfrau geliebt, wegen seinen langen Dreadlooks, seinen wunderbar ebenmäßigen Gesichtszügen und vor allem wegen seiner engelsgleichen Ausstrahlung und mich, viel zu blond und viel zu unangepasst. Auf den Dom hatte die Südsee sich mit Italien verbündet und so entstand Pizza Haweii, aber die Pizza ging auch nach Griechenland und kreierte Pizza Gyros. Der Pizza zur Seite, stand die mit allen möglichen Spezialitäten gefüllte Teigtasche, rund ums Mittelmeer heimisch, sei sie nun vegetarisch oder auch nicht.

Lieber Sand in den Haaren, als Asche im Mund.

RIO KISTE.

Wie sollen denn nun die Bürger einer Gesellschaft auch nur halbwegs konsequent handeln, wenn ihre Regierung das nicht schafft. In der Coronabekämpfung ist der Föderalismus ein Fluch, denn das Virus hat mit Demokratie nichts am Hut. Zur Beruhigung aller Mitbürger, die sich um ihre geschätzten Daten Sorgen machen, schlage ich eine ganz einfache Lösung, in Form einer konsequent durchgesetzten Sperrstunde, von jetzt bis Ende Januar, zwischen zehn Uhr abends und sechs Uhr morgens vor. Danach ist das Virus unter Garantie kein Problem mehr. Das wir uns selbst die Hölle sind, ist bekannt, aber noch viel schlimmer ist, dass wir uns selbst die Dummheit sind und die kann man nur sehr rigoros an die Kandare legen. Unautorisierte Unsinnmacher glätten ihre krausen Gedanken und ziehen eine Runkelrübe aus dem Hut, ohne wirklich anzuecken. So kommt der Esel zur Distel und die Schildkröte zum Salat.

Dort wo heute sehr teure Markenklamotten verkauft werden, ungefähr fünfzig Meter von der Ecke Schulterblatt / Lerchenstraße entfernt, befand sich lange Jahre ein Laden, in dem Versicherungsschäden, enorm kostengünstig an die Frau und den Mann aus dem Viertel, oder auch von außerhalb, gebracht wurden. Die Viertel interne Bezeichnung der Lokation war Okkasionsquelle, für gelernte Lateiner, notorische Loser und Langzeitarbeitslose gleichermaßen verständlich. Der Laden war ziemlich groß, völlig unübersichtlich, roch recht ranzig und war mit allen möglichen, irgendwie verkäuflichen Waren voll gestopft. Es gab alle nur denkbaren Ersatzteile, für alles was man sich denken kann, Küchengeräte, Putzmittel, Malbücher, Federmappen, Schultüten für Erstklässler, Süßwaren im Überfluss, zu jeder Jahreszeit der Verkaufsschlager, seien es nun Osterhasen oder Weihnachtsmänner. Werkzeuge als Einzelteile oder in mehr oder minder aufwändig gestalteten Kästen, Spezialeditionen, Doktortaschen, Kinderspielzeug, ganz wichtig, Batterien jeder Größe und Spannung. Blumenkästen und Töpfe, verschiedene Düngemittel, Saatgut, zumindest auf der Packung wunderschön blühender Pflanzen, Blumenerde, Balkon gerechte Hacken, Rechen und Schaufeln, Gartenstühle und diverse Kissen. Das Ganze garniert mit Nippes, aus so ziemlich allen Kulturen der Welt und ein paar verstreuten Designer Klamotten. Die zum größten Teil weiblichen Mitarbeiter der Okkasionsquelle erfreuten sich einer, eher zufällig erworbenen Machtposition, denn immer wenn wirklich interessante Neuzugänge in den Laden kamen, war im Vorteil, wer schnell zur Stelle war. Wer nicht schnell genug war hatte das Nachsehen, was manchmal zu etwas unangenehmen Nachtreten führte, denn die Bewohner des Stadtteildorfes hatten schon eine Vorstellung davon, wer was wusste und wer nicht. Der Geschwisterladen der Okkasionsquelle, war der Outlet Laden für Görtz Schuhe kurz vor der Ecke Schulterblatt / Schanzenstraße. Dort landeten, für einen enorm günstigen Preis, sämtliche Schuhe der Firma Görtz, die im Laufe mehrerer Jahre nicht verkauft worden waren. Mit meiner Normalgröße zwischen siebenunddreißig und achtunddreißig, musste ich meistens ziemlich lange suchen, aber dafür lag der Laden direkt auf meinem Weg. Wer Damenschuhe zwischen Schuhgröße neununddreißig und vierundvierzig tragen wollte, befand sich an der Ecke Schulterblatt / Schanzenstraße im Paradies. Die Schuhfetischisten kamen von weit her und sie kauften richtig ein, manche nur für sich selbst und andere unübersehbar für einen Laden, in den Tiefen der Provinz. Wirklich bemerkenswert waren die Frauen an der Kasse, sie saßen in der Okkasionsquelle, im Schuhladen, aber auch bei Budnikwosky, an ihrem Platz und tippten die Preise ein. Wenn es irgendwie möglich war, korrigierten die die Wirklichkeit zum Vorteil ihrer Klientel, übersahen ein paar Positionen aus dem Einkaufswagen und interpretierten den Zahlungsablauf sehr kreativ. Ganz und gar völlig ohne alle Skrupel und Vorbehalte, agierten die Verkäuferinnen in den Fettgebäckverkaufswagen auf dem Dom. Den Punkern aus den besetzten Häusern im Karoviertel schenkten sie ihre Spritzkuchen, Mutztmandeln, Quarkbällchen und Zuckerguß überzogenen Krapfen und Spritzringe ganz einfach.

Was man nicht packen kann, kann man immer noch einpacken.

TRANS SICK.

Seit es Schnellkochtöpfe gibt, dürfen wir uns nicht wundern, wenn alles schnell gehen muss. Omas Milchreis garte noch einen halben Tag lang unter der Bettdecke und unausgegorene Gedanken hatten keine Chance, denn Zeit hatte man nur, wenn man sich Zeit nahm. Ladenhüter öffnen ein Zeitfenster und gönnen der Zeit eine Schleife, denn einzig dort, wo die Sommerzeit der Winterzeit ihre gestohlene Stunde zurück gibt, bleib die Zeit stehen und trödelt zweckfrei herum. Zeitabnehmer ringen um ihre Lebensberechtigung und obwohl man Zeit schinden kann, wird die Zeit nicht wirklich in Mitleidenschaft gezogen, denn sie bleibt sich immer treu. So ist denn die Zeit die man haben kann, keine Zeit die man hat und vergeht wie im Flug. Wir buchen eine Zeitreise in die Gefilde der Zeitlosigkeit, denn wer keine Zeit hat, wird auch keine Zeit bekommen. Zeitnah bleiben wir am Ball und gönnen uns einen Pausenfüller unter der Zeitlupe.

Die Globalisierung zerstört nicht nur Dörfer in Afrika und Indien, sondern auch die fast dörflichen Stadtteilkulturen der modernen Informationswelt. Die Schanze war ein liberales Dorf, im Zentrum einer reichen, ziemlich verschnarchten Kaufmannsstadt und im Gegensatz zu den reichen Stadtteilvierteln wie Blankenese, Eppendorf, Niendorf, Harvestehude und auf der anderen Seite der Einkommensskala, Billstedt, Kirchdorf Süd, Wilhelmsburg oder Osdorfer Born, war die Einwohnerschaft der Schanze lange Zeit wenig homogen. Kaum jemand wollte in den großen, zugigen, komplett unsanierten Altbauwohngen wohnen, die Speckgürtel im Umland boomten. Die alte Innenstadt war herunter gekommenes Wohngemeinschaftsland. Die grauen, oder immer noch vom Krieg rußgeschwärzten Fassaden der stolzen, teilweise über hundert Jahre alten Häuser, stießen die meisten potentiellen Mieter ab. Im Tabak und Zeitungskiosk trafen mittellose Punker auf finanziell üppig ausgestattete Zuhälter, arme, aber sehr liberal und wild bewegte Studenten und Studentinnen, auf noch viel ärmere, alte Ömchen und wohlhabende Inhaber mittelständischer Schlachtereien. Heerscharen standesbewusster Mont Blanc Mitarbeiter, in der Mittagsstunde ihren Büros entflohen, standen beim Mittagessen an den selben Stehtischen mit den nicht weniger standesbewussten Arbeitern des Schlachthofes und nichts überwindet Klassenschranken so gut, wie gemeinsames Essen. Fast überall konnte angeschrieben werden, entlaufene Hunde wurden eingefangen und zu ihren Herrchen oder Frauchen zurück gebracht und im Zweifelsfall gab irgendjemand einen aus. Ein etwas angestaubtes Shangri La. Eigentlich hätte das ja ewig so weiter gehen sollen, aber dann fiel die Mauer zum ideologisch entgegengesetztem System, der Schlachthof musste gehen und der Kapitalismus brauchte keine Rücksicht mehr auf die Eingeborenen zu nehmen. Ein Teil der Eingeborenen und später Zugezogenen ließ sich nerven und zog fort, aber nicht wenige Alteingesessene wollten sich nicht vertreiben lassen und harren immer noch aus. Am schlimmsten sind die AirBnB Vermietungen, denn sie vernichten nicht nur systematisch Wohnraum, sondern auch Stadtteilstrukturen. So ist denn die gesamte, sogenannte Sharing Kultur ein einziger, großer Betrug an denen die arbeiten gehen und das System der Teilhaber am laufen halten, denn der Gewinn wird nicht wirklich geteilt. Trotzdem und gerade jetzt, fordern die, die immer nur auf Kosten der Bewohner des Viertels ihren Reibach gemacht haben, mit einmal Solidarität ein. Wir brauchen keine Bars und Kioske gab es schon vor dreißig Jahren genug im Viertel. Gefeiert haben wir auch schon immer, nur meistens nicht auf der Straße, unter den Fenstern anderer Menschen, denn das würde die Anwohner stören und wer keine Rücksicht nimmt, braucht auch keine Rücksicht zu erwarten. Insgesamt ist das alles gar nicht schön und das schöne Menschen schöne Dinge tun oder sich schön benehmen, ist ein unschöner Irrtum. So geht die Gesellschaft denn auch nicht schön zu Grunde, sondern ganz schön schrecklich. Schrecksekunden haben ihren Auftritt, aber letztendlich sollten wir uns nicht so schnell erschrecken lassen und dem Schrecken ins Auge sehen, um es besser zu machen. Vielleicht lässt der Schreck dann ja ein wenig nach.

Die Show ist keine Party.

SCHAUM WELT.

Es ist schon ein bisschen bizarr, all diese einander widerstreitenden Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie. Pans Flöte, nicht rational, nur irrational und einzig und allein wirtschaftlichen Erwägungen und dem persönlichen Wohlbefinden geschuldet. Nun nehmen Viren leider keine Rücksicht auf individuelle Befindlichkeiten, sondern sie folgen stur ihrem eigenen Gesetz und vermehren sich freudig. Nicht ohne Grund ist erfreuen sich Antiviren Programme weltumspannender Beliebtheit und so wie das virtuelle Virus ein gefährlicher Feind der virtuellen Welt ist, ist das Coronavirus unser aller Feind. Von van Helsing zu Drosten, Virenjäger sind die Vampirjäger der Neuzeit, nur das Vampire etwas vernünftiger waren und ganz ohne Blutrache junges, gesundes Blut bevorzugten. Blutlinien bestehen auf ihre Intuition und wer letztendlich immun ist, wird weder im Himmel noch auf Erden entschieden.

Aber nicht nur „Montblanc“ verschwand, das große, von einem wunderbar normal spießigem Betreiber Ehepaar und den Angestellten ihres Vertrauens, ein paar mittelalten, dauergewellten Damen, geführte Wäschefachgeschäft, an der Ecke Susannenstraße / Schanzenstraße, wo es Bettwäsche, Handtücher jeder Größe fürs Bad und für die Küche, Gardinen aller Längen und Breiten, von der Mustervielfalt ganz zu schweigen, zu kaufen gab und wo man das Erworbene mit seinem persönlichem Monogramm, oder anderen Motiven besticken lassen konnte, schloss ein paar Jahre nach der Jahrtausendwende. Wie etliche aufgegebene Geschäfte stand der Laden erst mal leer und dann zog das „Udopia“, ein sogenannter Headshop, in die Räumlichkeiten des ehemaligen Wäschefachgeschäftes ein und hält sich bis heute erfolgreich. Auf der andern Seite der Ecke, gleich hinter “Omas Apotheke“, wo HaHe gerne mit seinen Kommilitonen vom Geomatikum Meter trinken ging, ein Fachbegriff, den ich bis dahin nicht kannte, aber HaHe erklärte es mir. Auf dem Tresen wird eine, angeblich einen Meter lange Strecke von Schnäpsen, die der Teufel gemacht hat und am liebsten aus Ouzo oder Tequila besteht, aufgestellt und möglichst zügig runter gespült. Wer zuerst fertig ist hat gewonnen und trinkt kostenlos. HaHe und sein frühzeitig verstorbener Freund Lon, taten das gern. Im Eingang der Tür neben „Omas Apotheke“, stand meistens ein Schlachter mit sehr melancholischen Augen und dünnen Haaren, im stilecht, dezent blutbeschmiertem, weißen Kittel, der auch als Burroughs Imitator hätte auftreten können. Ich stellte mir gerne vor, wie er süße, ziemlich blöde, kleine Jungs, in seinen Laden lockte. Die schwer verwinkelten, in sehr diffuses Licht getauchten Räumlichkeiten hinter seinem Rücken, waren mit Tiefkühltruhen voll gestellt, in denen es so ziemlich alle möglichen toten Tiere, oder ihre Teile befanden, die in der Gastronomie fast aller Bewirtungsbetriebe meiner Heimatstadt zum Einsatz kommen. Was sich sonst noch darin befand, bleibt der Phantasie überlassen. Die Schlachterapokalypse ist mittlerweile komplett saniert. Die Räumlichkeiten, in denen der Burroughs Imitator, mit seinem Blut befleckten, weißen Kittel einst kleine, vom Weg abgekommene Jungs verführte, sind schneeweiß gestrichen und mit teuren Lifestyle Klamotten voll gehängt. Direkt gegenüber hat Tim Mälzer seine „Bullerei“ aufgemacht und das Publikum, bleibt selbst in schwierigen Zeiten nicht aus. Um die Ecke in die Susannenstraße, wurde aus „Ladiges und Oelkes“ einem Lampenfachgeschäft, in dem ich vor über drei Jahrzehnten noch Glühbirnen mit Bajonetstecker erwerben konnte, ein Nobelladen für Lichttechnik. Die Dependance der Post, direkt nebenan gelegen wurde weg modernisiert, fiel dem Sparwahn der öffentlichen Einrichtungen zu Opfer und seitdem müssen wir unsere Briefe und Pakete in allerhand Gemischtwarenläden abgeben oder bis zum Dammtor fahren. Unverwüstlich trotzt der türkische Gemüsesupermarkt an der der Ecke Susannenstraße / Bartelsstraße allen Veränderungen. Seine Betreiberfamilie hat mittlerweile das Haus gekauft, auf dem Dach einen Garten eingerichtet und führt den Laden, mit minimalen Abweichungen immer weiter in die Zukunft. Der kurdische Gemüsesupermarkt auf der gegenüber liegenden Seite, hat schon vor etlichen Jahren aufgegeben und wurde zum „GoldFischGlas“, einer Bar, stellvertretend für alle Missstände im Viertel, die bis heute keinerlei Rücksicht auf die Belange der Anwohner nimmt.

Wer am Ball bleibt, braucht keine Kugeln stoßen.

STUSS KNACKER.

Vor ein paar Tagen führte der Zufall mich auf den Campus und ich staunte nicht schlecht. Was nirgendwo geht, wird mitten im Herzen der Aufsässigkeit verwirklicht. Auf dem Gelände der Universität werden die Coronaregeln konsequent durchgezogen. Noch nie war der Campus so leer, sämtliche Sitzgelegenheiten wurden gestrichen, nirgendwo geht irgend jemand rein, ohne einen Grund anzugeben und Abstand halten versteht sich von selbst. Wie eine Insel der Seeligen präsentiert sich der Campus so in der Coronazeit, aber wo der Campus endet, endet auch die Vernunft. Die rigoros zur Ordnung gerufene Studentenschaft, tobt sich jenseits der Grenzen des Campus hemmungslos aus und missachtet sämtliche Abstandsregeln. Ob Heizpilze wirklich helfen können bleibt fraglich, denn im Regen kann man zwar stehen, aber nicht richtig gut feiern.

Aber nicht nur die Straßenbahn verschwand wie die Dinosaurier, auch das produzierende Gewerbe verabschiedete sich vom Ende der siebziger Jahre, bis zur Jahrtausendwende, immer weiter aus dem Viertel. Die Firma „Montblanc“, deren dunkelrote, mehrstöckige Klinkerbauten, sich vom Schulterblatt, über den Hamburger Hof und die Bartelsstraße, bis zur Schanzenstraße zogen, schloss einen Produktions und Verwaltungsbereich nach dem anderen und verlegte ihn in kostengünstigere Gefilde. Die vielköpfige Belegschaft der berühmten Federhalterfabrik, war jeden Werktag wieder um die Mittagszeit ins Viertel ausgeschwärmt und hatte etlichen kleinen Schlachter und Fleischverarbeitungsbetrieben, die fast rund um die Uhr warme Mahlzeiten anboten, zu einem anständigem Auskommen verholfen. Hinzu kamen die Mitarbeiter des Schlachthofes an der Lagerstraße, die keineswegs, wie die Folklore es will, nur in „Erikas Eck“, Fischbrötchen oder opulente Mahlzeiten zu sich nahmen. Wer nicht essen wollte oder mochte, konnte immer noch auf ein flächendeckendes Angebot überaus tolerantes Nachbarschaftskneipen und ihr üppiges Alkoholika Angebot zurück greifen. Das Viertel funktionierte fast noch wie ein Dorf, wer liegen blieb wurde aufgehoben und entweder nach hause gebracht, oder zumindest in kompetente Hände übergeben und eigentlich kannte jeder jeden. In den ersten Jahren am Schulterblatt schlossen wir noch nicht mal ab, wir zogen die Wohnungstür einfach nur hinter uns zu und selbst, der von meiner Mutter sogenannte Monarch, der sich auf dem Treppenabsatz zur Ruhe gebettet hatte, störte uns nicht. Die alte Kaufmannsstadt war ganz wunderbar verschnarcht und verwunschen und ich wünschte mir oft, dass das immer so bleiben würde, aber leider hilft wünschen nicht. Montblanc verließ das Viertel, die Mauer fiel, der Schlachthof wurde weg gemobbt, wir waren ohne Schutz und die Investoren fielen über das Viertel her. Auf NDR lief ein Beitrag, in dessen Verlauf ein sogenannter Investor, in seiner überaus komfortablen Limousine durch die Straßen des Viertels glitt und sich ausführlich darüber ausließ, was man aus dem Bestand, unter der Voraussetzung, die Eingeborenen Bewohner zu entfernen, machen könnte. Kolonialismus pur. Pionier mäßig zog Peter Kabel, ein ambitionierter Kunstprofessor von der HFBK, in die Räumlichkeiten von Montblanc und gründete dort eine der ersten Internetfirmen, die er hoch fliegend nach sich selbst benannte. Die Firma „Kabel“ kam ganz schnell nach ganz oben, zumal Professor Kabel sich keinen Zwang antat und seine begabtesten Studenten und Studentinnen kostengünstig in seine Firma involvierte. Seine gut bezahlte Professorenstelle an der HFBK und sein ziemlich zeitaufwändiger Job, als Chef von „Kabel“, bereiteten ihm dabei keinerlei Kopfzerbrechen. Er war eins der ersten und schönsten Beispiele dafür, dass das Internet und alles, was mit dem Internet zusammen hängt, keineswegs gut sein muss, denn die virtuelle Welt ist mindestens genauso kapitalistisch und Energie aufwändig, wie die reale Welt. Halbe Hühner husten sich in die hohle Hand und die halbe Welt muss nicht zwingend ganz werden, aber wer nicht mit den Gänsen reisen will, hat selber schuld, denn Glück wird nicht nur geschenkt, sondern auch selbst bestimmt. Stimmungsvoll lauschen wir den Obstbäumen, den Eichen und Eschen, den Buchen und Birken, denn der Wind in all seiner Schönheit, ist völlig egalitär.

In eine harte Schale kann man sich nicht werfen.

BLUMEN STEINE.

Auf dem Dom gibt es halbe Hähnchen, Liebesäpfel und Zuckerwatte, aber keine halben Herzen, denn wer nur mit dem halben Herzen dabei sein will, kann es auch gleich ganz bleiben lassen. Nun kann denn wer kein großes Herz sein eigen nennt, durchaus auch ein kleines Herz erwerben, nur halt kein halbes. Halbe Sachen sollte man sowieso meiden, aber die halbe Welt sollte man auch nicht mehr los lassen. Wer den Himmel stürmen will, hat sowieso andere Probleme und das, das Ganze mehr ist, als die Summe seiner Teilchen, muss nicht mehr diskutiert werden. Über den Gartenzaun gesprungen, offenbaren sich völlig neue Möglichkeiten, das Undenkbare nimmt Konturen an, aber das gute Geschäfte für gute Laune sorgen, steht noch lange nicht fest. Besser ist es sowieso, dem Himmel seinen Willen zu lassen und nicht gegen den Strom, sondern mit dem Strom zu spinnen.

Als ich 1979 ins Schulterblatt zog, war die letzte Fahrt der Straßenbahn noch nicht lange her. Die Schienen der Straßenbahn durchzogen das Schulterblatt, behinderten den freien Verkehrsfluss und als sie heraus gerissen wurden, fiel ich aus dem Bett. Mit einer gigantischen, geradezu urzeitlichen Maschine, malträtierte ein Trupp von Straßenbauarbeitern das Schulterblatt und riss die Schienen brutal aus dem uralten Kopfsteinpflaster. Das Haus bebte in seinen Grundfesten, die Wunden auf der Straße wurden zugeschmiert und fortan brauste der Autoverkehr umso lauter durch die Straße. Im Umkreis von etwa fünfhundert Metern befanden sich drei Tankstellen, zwei an der Kreuzung Lippmannstraße / Max-Brauer-Allee und eine direkt um die Ecke, da wo die Ludwigstraße auf die Schanzenstraße trifft. Der Tankstelle war kein besonders langes Leben mehr beschieden, sie verschwand, genauso wie das angrenzende Vereinslokal der der Hells Angels, der „Angels Club“, in dessen Räumlichkeiten nach einer kurzen Karenzzeit, der „Dschungel“ einzog. Das Gelände der ehemaligen Tankstelle blieb viele Jahre lang unbebaut und musste dann gründlich entseucht werden, bevor dort ein normal scheußlicher Gebäude Komplex entstand. Schöner war es allemal, freie Sicht bis zum Fernsehturm zu haben, die Sonne über dem leeren Platz aufgehen sehen, über riesigen Pfützen, in denen sich zuvor schon Mond und Sterne gespiegelt hatten. Mit der Bebauung des ehemaligen Tankstellenareals an der Ecke Schanzenstraße / Ludwigstraße, begann die Gentrifizierung des Viertels. Dem Autohaus an der Ecke Lerchenstraße / Lippmannstraße stand eine sehr wechselvolle Geschichte bevor. Den Gefährten mit dem Stern auf der Haube folgte die Konkurrenz aus München und später Opel. Jedes Mal wurden die Räumlichkeiten des großen Autohauses an der Ecke komplett überholt, aber der Umsatz brach trotzdem immer mehr ein. Nach Jahre langem Stillstand, wurde das Gebäude noch mal vollständig saniert und heute befinden sich dort die sogenannten Schanzenlofts. An der Ecke Lippmannstraße / Max-Brauer-Allee hat nur eine Tankstelle überlebt und sich mit einem gut bestückten Tankstellenshop und einer rund um die Uhr geöffneten Waschanlage, den Umständen angepasst. Auf dem ehemaligen Areal der abgewickelten Tankstelle befindet sich einer der letzten, innerstädtischen Bauwagenplätze und wahrscheinlich auch nur, weil der Boden dort nie entseucht wurde. Den beiden Tankstellen gegenüber, auf der riesigen Brache an der Max-Brauer-Allee, zwischen der Kreuzung Schulterblatt / Altonaer Straße und Max-Brauer-Allee Stresemannstraße, wurden Gebrauchtwagen verkauft und inmitten der Gebrauchtwagenbrache befand sich ein Schuppen mit Namen „Airport“. Dort gingen die Rocker tanzen, nachdem der „Angels Place „ geschlossen worden war und sie legten Wert auf Exklusivität. Nachdem HaHe, der ja immer recht neugierig und experimentierfreudig war, sich ein einziges Mal ins „Airport“ verirrt hatte, kam keiner von uns auf die Idee dort einzukehren. Das ging dann allerdings nur noch ein paar Jahre gut, die Rocker verschwanden aus dem Mainstream, der Schuppen stand mindestens zwei Jahre leer und dann zog das „Kir“ ein und organisierte viele Jahre mehr oder weniger avantgardistische Konzerte. Der Boden wurde immer wertvoller, das „Kir“ konnte die Miete nicht mehr bezahlen, die Räumlichkeiten wurden an private Partyveranstalter vermietet und nach ein paar Jahren kaufte eine alternative Wohnungsbaugenossenschaft das Grundstück.

Unter der Haube, ist nicht unter der Haut.

MOGEL SCHUTZ GEBIET.

In der vielbeschworenen Kiosk Kultur verbinden sich alte Knaben mit späten Mädchen und Oxymorone feiern fröhliche Urständ. Der Wald wird nicht schweigen und das Meer ist sowieso völlig unberechenbar. Wer auf den Hund kommen will, muss erst mal Hunde kennen lernen und für die Katz sein, denn in den Ohren kann man nicht liegen, ohne an der Ecke zu stehen. Extrawürste lassen sich nur besonders schwer entsorgen und Extraportionen sind schon lange von der Zeit überholt. Ex und Pop. Auf der untersten Schiene kann man nicht mehr tiefer fallen, aber wer in die Tiefe gehen will, wird es tun. Ob tiefe Schluchten wie stille Wasser oder blaue Augen sind, wissen nicht mal Tiefenforscher, denn tief genug ist es nie. Höher hinaus geht es nur über den Abgrund, aber schräge Gedanken gehen ganz bestimmt nicht nach hause. Nachtfalter torkeln durch die herbstliche Nacht und Spinnen reisen mit Bedacht.

Die heiligen Kühe des Kapitalismus waren Autos und wahrscheinlich sind sie es auch immer noch. Der Fetisch der Mobilität ist bis heute absolut sakrosankt und so wie kaum ein Western ohne wilde Verfolgungsjagden auf den Rücken von Pferden auskommt, kommt kein Krimi oder Actionfilm aus Amerika, ohne Autoverfolgungsjagden aus. Was wäre Vin Diesel ohne seine PS starken Untersätze in „The Fast and the Furios“, woraus eine ganze Serie von Autoverfolgungsjagden Filmen entstand, die ihn so reich machte, dass er es sich ohne weiteres leisten konnte, an sehr eigenwilligen und nicht unbedingt kommerziell besonders einträglichen Science Fiction Filmen, als Schauspieler und Produzent mitzuwirken. Meine Großmutter machte mit Mitte fünfzig ihren Führerschein, den sie bis zu ihrem Tod nicht abgab. Sie setzte sich noch hinters Steuer, als sie schon fast dorthin getragen werden musste und hörte erst auf zu fahren, als sie fast nichts mehr sah. Das Autoland machte meinen Stiefvater zu einem wohlhabenden Mann, viele Jahre lang schätzte er die Versicherungsschäden von Unfallwagen und weil er als absolut unbestechlich galt, konnte er sich vor Aufträgen kaum retten. Ohne Auto war man damals fast nackt und es war völlig selbstverständlich, auch die kürzesten Entfernungen mit dem Auto zu bewältigen. Vom Schulterblatt fuhren wir mit dem Auto zur Uni und nach Altona und öffentliche Verkehrsmittel waren eine andere Welt. Der Strom kam aus der Dose, der Sprit von der Tanke und der ADAC war ein wirklich einflussreicher Verein. Autos waren genauso sexy wie Zigaretten und der Duft der großen, weiten Welt waberte aus Mündern und Auspüffen, in eben diese, leider gar nicht so große und weite Welt. Nun ist Autoland abgebrannt und selbst Elon Musk, der ja wirklich was auf die Beine stellt, wird Elektrizität nicht echt sexy machen, denn dafür müsste er selber sexy sein. Wahrscheinlich wäre es sowieso besser die Sexyness geistiger Mobilität zu entdecken und die der Pferdestärken wieder auf Pferde zu beschränken, denn wie schon das Sprichwort weiß, liegt das Glück dieser Erde auf dem Rücken der Pferde. Im Voodoo werden die Besessenen von den Gottheiten, die von ihnen Besitz ergreifen, geritten. Sie sind ihre Pferde. Im Kapitalismus werden die Arbeitnehmer und Arbeitgeber durch ihre Automobile klassifiziert. Einer der erfolgreichsten Fetische, war der Jahreswagen von Mercedes, der jedem Arbeitnehmer an den Fließbändern des Konzerns mit dem Stern zustand. So war Mercedes denn Deutschland und VW expandierte nach Südamerika. Mein Stiefvater fuhr Mercedes, meine Mutter eine Ente von Citroen, Onkel Günther einen großen Audi und Barbarossa, seine durchaus durchsetzungsfreudige Frau, einen Mini. Langhaarige Hippies verdienten sich eine goldene Nase, mit der Überführung abgerockter Gebrauchswagen der Firma Mercedes, nach Griechenland und in die Türkei, denn alle wollten die besten Autos aus Autoland. Zwar wurde die Einfuhr der Schrottreifen Karossen mit etlichen, imposanten Stempeln im Pass dokumentiert, aber nach erfolgreichem Verkauf gingen die Ausweispapiere verloren, oder wurden geklaut. Das machte dann alle glücklich, die Hippies reisten mit dem nötigen Kleingeld in der Tasche weiter, über Kabul nach Indien und Nepal und den besternten Viertürern wurde noch ein langes, gut gepflegtes Leben, im mediterranen Klima beschert.

Wer nicht fährt fliegt, bis uns alles um die Ohren fliegt.